Frankfurt, im Juli 2021 – Neugierig schauten die Kinder über die Reling, als die Fähre aus Liverpool am 27. Juli 1946 längsseits in Dun Laoghaire im Süden Dublins festmachte. Der Pier war überfüllt von Menschen: wartenden Frauen und Männern, Arm in Arm, Familiengruppen. Hauben von Ordensfrauen und schwarze Talare. Menschen über Menschen. Winkende Hände überall. Und freudige Gesichter, die erwartungsvoll hinaufschauten zum Oberdeck des Fährschiffes.
Dort oben an der Reling aufgereiht standen sie, die Kinder aus Deutschland: Acht- bis Neunjährige, Jungs und Mädels, Flüchtlingskinder in Begleitung von Nonnen, Kriegskinder. Und sie spähten neugierig hinunter auf das freundlich wogende Menschenmeer, auf eine Willkommenskultur spontaner Herzlichkeit und des Erbarmens: auf dunkle Mäntel, schwenkende Flat Caps und breite Hüte und – als seien Möwen auf ihren Köpfen gelandet – auf die weißen Hauben von Krankenschwestern in der Kluft des Irischen Roten Kreuzes. Entlang des Hafenbeckens waren Tische aufgereiht, beladen mit Kannen und Kuchenplatten, mit Türmen aus dick belegten, dreieckigen Sandwiches und Schalen mit Früchten. Iren wissen, was Hunger ist. Und diese Kinder waren Hungerleider.
Es war später Nachmittag geworden, nach einer rauen Überfahrt über die Irische See. Es war Samstag, der 27. Juli 1946, ein Tag, den keines der Kinder an Bord je vergessen würde. Ein Tag, so schrieb die Irish Times im Rückblick, „auf den Irland stolz sein kann“. Diese Kinder waren dem zerbombten und hungernden Nachkriegsdeutschland entkommen und waren mit offenen Armen in Irland aufgenommen worden: in einem der damals ärmsten Länder Europas. Drei Jahre sollte ihr Aufenthalt bei irischen Gastfamilien dauern. Manche kehrten etwas früher zurück. Einige blieben für immer. Nur wenige Zeitzeugen leben noch. Am 27. Juli 2021 feiern sie mit Freunden und Familien diesseits und jenseits der Irischen See den 75. Jahrestag einer legendären, fast vergessenen Hilfsaktion. Sie lehrt uns, dass es damals wie heute offenbar eher die Armen sind, die sich der Ärmsten erbarmen und der Schwächsten unter ihnen: der Kinder.
Zufällig fällt in das Jahr dieses 75. Gedenkens auch die 100-jährige Unabhängigkeit Irlands seit dem Bürgerkrieg 1919/1921. Er führte 1922 zur Gründung des Irischen Freistaats und der Abtrennung von Nordirland: mit der Folge einer Teilung der Insel, die bis heute währt. Zugleich feiert das Kinderhilfswerk UNICEF sein hundertjähriges Bestehen, mit Spendenaufrufen für die vergessenen Trümmerkinder der Gegenwart in Syrien, für die Kriegskinder im Jemen oder für die Pandemieopfer in Brasilien und Indien.
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Hintergrund
Am 16. Oktober 1945 fand auf Einladung der Kinderärztin Kathleen Murphy die Gründerversammlung einer gemeinnützigen Organisation im Shelbourne Hotel von Dublin statt. Ihr Name war Programm: „Save the German Children Society“. Sie wollte mit Beistand der irischen und britischen Regierung notleidende und hungernde deutsche Kinder nach Irland holen. Die humanitäre Hilfsaktion bekam den Namen „Operation Shamrock“. Der Alliierte Kontrollrat gab im März 1946 sein Einverständnis dazu. Doch antibritische, profaschistische und vom Rassenwahn vernebelte Kommentare brachten die Initiative in Misskredit. Daraufhin legte Ministerpräsident Éamon de Valera die Aktion kurzerhand in die Hände des Irischen Roten Kreuzes, um sie vor politischer Diskreditierung zu schützen. Irland stellte zwölf Millionen Pfund an Hilfsgeldern zur Verfügung und nahm bis 1947 etwa tausend notleidende Kinder im Alter von drei bis fünfzehn Jahren auf. Sie kamen aus Polen, Österreich und Frankreich – und eben aus Deutschland: rund 500 an der Zahl.
Der erste der Evakuierungs-Transporte erreichte mit 80 Kindern an jenem 27. Juli 1946 Dun Laoghaire. Wie die meisten danach kamen sie aus dem zerbombten Rheinland: dem britisch besetzten Nordrhein-Westfalen. Fast alle Kinder waren katholisch. Die Zwillinge Elisabeth und August Kohlberg etwa, Waisen aus Aachen. Oder Herbert Remmel aus Köln. Wenige nur waren protestantisch wie etwa Helga Mullins und Bruder Walter, die auch erst spät Pflegeeltern fanden. Die meisten kehrten zurück. Wenige blieben – wie Elisabeth, die spätere Elizabeth O’Gorman (16. Juli 1938 | 13. Juni 2017). Sie wurde von Mary und Roderick McNicholl aus Sandymount aufgenommen und heirate Jack O’Gorman. Sie wurde irische Tennismeisterin und war die Mutter von fünf Kindern.
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